Es klingelt schon als ich in der Foyerlandschaft der Philharmonie ankomme und meine Karte am Einlass vorzeige. Ich bin noch leicht angespannt von der Rushhour, vom Regen, von der Hektik der Stadt. Und plötzlich sitze ich hier im kleinen Bruder der Philharmonie, dem Kammermusiksaal, wie in einem Vakuum. Ich staune über die Architektur und merke, wie ich allmählich entspanne und mich entschleunige.
Es herrscht nicht direkt Ruhe im Saal, aber doch eine gewisse Erwartung. Wann geht’s denn nun los? Oder ist es schon losgegangen? Das spannende Spiel, dass eben auch das Publikum Teil einer jeden Inszenierung ist. Und dann geht’s los. Mit Nichts. Oder fast nichts.
Der Dirigent Florian Helgath tritt aus dem Publikum für die Geste des Anfangens kurz auf das Podium und setzt sich wieder zurück auf seinen Platz in die erste Reihe. Weiter mit Stille. So lange oder so kurz bis der erste Ton erklingt.
Aus den Zuschauerreihen erheben sich abwechselnd die Sänger/-innen des RIAS-Kammerchors. Als Paar oder zu dritt geben sie den Ton an und halten ihn in ihrer jeweiligen Stimmlage. Das ist also Four2 – ein siebenminütiges Stück von John Cage für einen gemischten Chor. Experimentell geht es weiter, denn dieser Konzert-Abend widmet sich vier Komponisten der us-amerikanischen Avantgarde des 20.
Jahrhunderts. Es folgen die beiden Duo for Pianists und das Chorstück Evening Shade, Wake up von Christian Wolff, das A-Cappella-Chorstück Christian Wolff in Cambridge von Morton Feldman, sowie von Elliott Carter The Defense of Corinth – ein Stück für Männerchor, Sprecher und zwei Klaviere.
Es ist faszinierend zu hören und auch zu sehen, wie die zwei Pianistinnen Ufuk und Bahar Dördüncü Musik celebrieren. Ihren Dialog aus einzelnen Tönen, Klängen, Rauschen in den Raum senden – unter der Obhut einer Stoppuhr. Und auch der Gesang und das Sprechen des Chors spielt mit Zeit, Raum, Ton und Stille. Und dem Publikum wird dabei automatisch die Aufgabe zuteil, zu entscheiden, wann es denn nun applaudieren darf. Das macht Spaß.
Aber warum es mich eigentlich hier in den Kammermusiksaal gezogen hat: Klar, John Cage, der mir mit 4’33 in warmer Erinnerung ist, aber, und jetzt kommt’s: Jazz trifft auf Chor.
Also der Schweizer Jazzmusiker Nik Bärtsch bildet mit seiner deutschen Erstaufführung AIM – Ich gehe den Höhepunkt und auch den Abschluss dieses Abends. Grundlage seiner Komposition im Auftrag des RIAS-Kammerchors sind drei Texte über den Aufbruch in den Tod und ins Leben. Heiner Müllers Traumtexte, William Shakespeares King Lear und das Märchen Die schöne Mondblüte seiner Tochter Aina Bärtsch stehen für ihn nicht nur inhaltlich, sondern auch persönlich emotional im Zusammenhang. Er lässt den Klang und den Rhythmus des gesprochenen Wortes, des choralen Kommentars und des Klaviers aufeinandertreffen – nicht „linear logisch“, sondern „mehrdeutig- poetisch“. Wie Jazz eben.