In der popkulturellen Nachbetrachtung kann jedes Jahrzehnt mit einem ihm typischen Musikgenre identifiziert werden. Die 1950er Jahre hatten den Rock’n’Roll. Die 60er waren geprägt von der British Invasion. In den 70ern gab Discomusic den Ton an …

Die erste Dekade, die mit einer bestimmten Musik in Verbindung gebracht werden kann, sind die 20er Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts. Das Jazz Age trägt dem ihm eigenen Sound sogar im Namen.

Wie so viele spätere Trends kam auch der Jazz aus den USA nach Deutschland. Zunächst jedoch nur vom Hörensagen, nicht in Form von Konzerten oder Tonträgern. Bis 1922 war der Import ausländischer Produkte verboten – wovon ebenso Schallplatten aus den USA betroffen waren. Lediglich einige deutsche Rückkehrer aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft berichten von den neuen Klängen namens Jazz.

Aber in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkriegs verstand man unter Jazz alles außer Jazz. Ein Paradebeispiel hierfür war die erste deutsche Jazz-Schallplatte. Am 15. Januar 1920 veröffentliche die “Original Excentric Band” aus Berlin den Song “Tiger Rag”. “Tiger Rag” wurde erstmals 1917 von der “Original Dixieland Jazz Band” aufgenommen und gilt heute als erste Jazzplatte der Welt. Doch da das Deutsche Kaiserreich während des Krieges von der internationalen musikalischen Entwicklung abgeschnitten war und Tonträger nach Kriegsende nicht importiert werden durften, kannten die deutschen Musiker jener Zeit den Jazz allerhöchstens von Notenblättern, die sie sich aus den USA schicken ließen.

Die erste deutsche Jazzaufnahme klang dementsprechend. Zwar bemühte man sich, typische Jazzinstrumente wie Banjo, Klavier und Trompete zu verwenden, jedoch wurden diese von Stehgeigern, Cellospielern und Marschmusikern gespielt. Die deutsche Interpretation des Jazzklassikers “Tiger Rag” bot daher wenig Swing und viel Radetskymarsch.

Musikalisch griff man in Deutschland zu Beginn der 20er Jahre der Einfachheit halber auf das Vorkriegsrepertoir zurück. In der Weimarer Republik – allem voran in Berlin – erblühte zwar bereits ein ausschweifendes, ekstatisches Nachtleben, doch war der Jazz zunächst nicht dessen Soundtrack. Das änderte sich erst ab 1922, als das Einfuhrverbot für ausländische Waren aufgehoben wurde.

Die Schallplattenverkäufe steigerten den Bekanntheitsgrad des Jazz, der nunmehr als amerikanisches Original und nicht länger als deutsche Auslegung gehört werden konnte. Zudem startete im Oktober 1923 das Radio in seiner heutigen Form. Bereits von Beginn an wurde Jazz gespielt. Hinzukam die wirtschaftliche Lage der Weimarer Republik, die sich ab 1924 besserte und gleichfalls ihren Teil zum Erfolg des Jazz in Deutschland beitrug.

Als Folge der Kriegsschulden und der Reparationszahlungen an die Siegermächte ließ die damalige deutsche Regierung beständig neues Geld drucken, was zu einer Hyperinflation führte, die ihren Höhepunkt 1923 erreichte. Im August 1923 erhielt man für einen Dollar 4,6 Millionen Mark. Die Bevölkerung wurde in die Armut gestürzt. In demselben Tempo, in dem die Mark an Wert verlor, verfielen gleichsam die Sitten. In einem Babylon wie Berlin war es daher nicht unüblich, sein Zubrot in der Gelegenheitsprostitution zu suchen. Ausländische Touristen verwandelten sich mit der Ankunft am Bahnhof zu Multimillionären. Am Wittenbergplatz kostete eine Nacht mit einer Domina gerade einmal sechs Billionen und eine Zigarette.

Erst mit der Währungsreform 1923/24 und der damit verbundenen Umstellung auf die Rentenmark und später auf die Reichsmark, stellte sich wieder eine gewisse ökonomische Stabilität ein. Diese erlaubte den Bürgern, Platten und Radiogeräte zu kaufen. Außerdem konnten Jazzorchester finanziell unterhalten und ausländische Künstler engagiert werden, was in den Jahren zuvor im Grunde unmöglich war. Ab 1924 waren nun auch die Roaring Twenties in Deutschland endgültig vom Rhythmus des Jazz bestimmt.

 

Kommerzieller Erfolg

Der durchschlagende Erfolg des Jazz als vielleicht erstes globales popkulturelles Phänomen bezieht sich aus deutscher Sicht sowohl auf bloße kommerzielle Aspekte als auch auf den Zeitgeist jener Ära. Wie erwähnt, hing die Verbreitung des Jazz mit seiner Distribution als Handelsware in Form von Schallplatten zusammen. Daneben profitierte er von dem Radio als neues, erschwingbares Massenmedium.

Anders als in den USA war der Rundfunk kein Geschäft für Privatunternehmen. Von Anfang an übernahm der Staat die Kontrolle, indem er Lizenzen vergab und Aufsichtsgremien für das Programm schaffte. Bereits ab 1924 erhob die Reichspost eine monatliche Rundfunkgebühr von zwei Mark, was ungefähr dem halben Tageslohn eines ungelernten Arbeiters entsprach. Zudem musste ein Empfangsgerät erworben oder – was beinahe gängiger war – selbst zusammengebaut werden. Damit eröffnete sich ein Markt für die entsprechenden Komponenten.

Ohne die einkehrende wirtschaftliche Stabilität für einen Großteil der Bevölkerung infolge der Währungsreform hätte die Verbreitung des Jazz in Deutschland in dieser Art nicht stattfinden können.

Ein entscheidender Teil der kommerziellen Verbreitung des Jazz stellt natürlich das exzessive Nachtleben und die maßlose Vergnügungssucht dar. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre verfügte allein Berlin – mit 3,8 Millionen Einwohner die damals drittgrößte Metropole der Welt – über gut und gerne 37 Theater, 119 Nachtclubs, 170 Varietés, 342 Kinos, 400 Bars und 20.000 Restaurant. Für alles brauchte man Geld.

Im Zuge der industriellen Revolution während des 19. Jahrhunderts etablierte sich der Arbeitstag. Die Organisation des Tages und das damit verbundene Verständnis von Zeit orientierte sich mit dem Aufkommen der Lohnarbeit an den Stechuhren und Fabriksirenen der Produktionsstätten, in denen das neuentstandene Proletariat seinen Lebensunterhalt erarbeitete. Infolge der Arbeitszeit bzw. des Werktags entwickelte sich das Konzept der Freizeit. Der Arbeiter sollte körperlich und mental regenerieren. Allgemein stand er allerdings vor der Herausforderung, die Zeit ohne Arbeit gestalten zu müssen. Es entstand eine Kultur- und Freizeitindustrie, dank der er Zerstreuung von der Arbeitszeit finden sollte und für die er bereitwillig den hart verdienten Lohn in die Hand nahm. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach der Unterbrechung des Ersten Weltkriegs konnte eine solche Freizeitindustrie nun vollends aufblühen.

Eskapismus war schon damals Konsum. 1921 verglich der Berliner Philosoph Walter Benjamin den Kapitalismus mit einem religiösen Kult, der permanent andauere. Jeder Tag sei Festtag, an dem die kapitalistische Religion ihren “sakralen Pomp” entfalten würde. Der Konsum als Kulthandlung könnte nunmehr an jedem Wochentag zelebriert werden. Egal ob in Konsumtempeln wie dem KaDeWe oder in den zahlreichen Clubs und Bars – der von der Freizeitindustrie verkaufte Hedonismus war so etwas wie das neue Opium fürs Volk.

 

Ideeller Erfolg

Wie sehr man in Deutschland den Jazz als Teil der Spaßgesellschaft wahrnahm, deuteten die ersten – mehr oder weniger – wissenschaftlichen Abhandlung zum Jazz an. Eines der ersten Bücher der Welt, die “Jazz” im Titel trugen, stammte aus Deutschland. Der Autor Alfred Barasel gab seinem 1925 veröffentlichten Werk den griffigen Titel:

Das Jazz-Buch: Anleitung zum Spielen, Improvisieren und Komponieren moderner Tanzstücke mit besonderer Berücksichtung des Klaviers nebst Erklärung der modernen Tänze in musikalischer und psychologischer Hinsicht, zahlreichen Notenbeispielen zur Abwandlung gegebenen Materials zum Jazzgebrauch und technischen Spezialübungen für den Jazz-Klavierspieler

Zunächst wurde Jazz fast ausschließlich mit seinen als hemmungslos wahrgenommenen Tänzen assoziiert. Kein Wunder, dass Josephine Baker in erster Linie für ihren Charlseton berühmt war, als sie mit ihrer “Revue Negré” in Berlin gastierte. Dass sie zudem barbusig auftrat und nach dem damaligen, wenig aufgeklärten Verständnis allein ihrer Hautfarbe wegen als exotisch galt, trug nicht minder zum allgemeinen Image des Jazz bei.

Aber neben dem Konsum des Vergnügens und dem Vergnügen am Konsum bediente der Jazz sehr schnell den deutschen Zeitgeist. Denn beim Jazz ging es nicht allein um die Zerstreuung der Zerstreuung wegen. Der Eskapismus der 20er Jahre war ganz im Sinne seiner englischen Wortherkunft eine Flucht. Eine Flucht vor den Schrecken des Krieges und der Schmach der Niederlage. Eine Flucht vor dem ökonomischen und sozialen Elend. Was sollte man auch anderes machen, als sich und sein Geld dem maßlosen Genuss auszuliefern, wenn – wie im August 1923 – eine Tasse Kaffee bei der Bestellung 6.000 Mark kostet und sich ihr Preis bei Erhalt der Rechnung bereits verdoppelt hat? Davor und danach lebte man vermutlich nie wieder derart für den Augenblick.

Und natürlich war das zügellose Amüsement eine Flucht vor dem Konservatismus und der Prüderie der Kaiserzeit, die nach dem Ende des Krieges noch immer umherspukten.

In Deutschland waren es die alle Regeln sprengenden Dadaisten, die als eine der ersten den Jazz als künstlerische Ausdrucksform für sich erkannten. Da dem Jazz und seinen Tänzen etwas politisch Subversives anhaftete, nahm man dies gerne als Gegenentwurf zu den preußischen Tugenden wie Zucht und Ordnung auf. Der Journalist Hans Siemsen schrieb dazu 1921:

Und noch eine nette Eigenschaft hat der Jazz. Er ist so völlig würdelos. Er schlägt jeden Ansatz von Würde, von korrekter Haltung, von Schneidigkeit, von Stehkragen in Grund und Boden. Wer Angst davor hat, sich lächerlich zu machen, kann ihn nicht tanzen. Der deutsche Oberlehrer kann ihn nicht tanzen. Der preußische Reserveoffizier kann ihn nicht tanzen. Wären doch alle Minister und Geheimräte und Professoren und Politiker verpflichtet, zuweilen öffentlich Jazz zu tanzen! Auf welch fröhliche Weise würden sie all ihrer Würde entkleidet! Wie menschlich, wie nett, wie komisch müßten sie werden! Kein Dunstkreis von Dummheit, Eitelkeit und Würde könnte sich bilden. Hätte der Kaiser Jazz getanzt – niemals wäre das alles passiert! Aber ach! Er hätte es nie gelernt. Deutscher Kaiser zu sein, das ist leichter, als Jazz zu tanzen.

So wurde der Jazz zu mehr als bloßem Entertainment. Er wurde zu einem Ventil, um Freiheit und Individualität auszuleben. Neben Künsten wie dem Surrealismus war der Jazz die musikalische Ausdrucksform all der Künstler und Freidenker, die die gesellschaftlichen Zwänge jener Zeit abstreifen wollten. Nicht nur von ihnen wurde die anfängliche Unterhaltungsmusik ernstgenommen, sondern auch von außenstehenden Analytikern, wie die zunehmenden Publikationen bewiesen.

Doch wurde der Jazz und das, wofür nunmehr stand, gleichfalls von seinen Gegnern ernstgenommen. Die reaktionären Kräfte der Weimarer Republik nahmen die Musik und ihrer geistige Haltung als gesellschaftliche und politische Bedrohung war. In ihrer totalitaristischen Weltanschauung war kein Platz für derart “undeutsches” Gedankengut. Freiheit, Individualismus und kulturelle Pluralität mussten einer deutsch-nationalen Gleichschaltung weichen.

 

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