Als Geburtsstunde des Samba gilt das 1916/17 veröffentlichte Lied “Pelo Telefone” von Dunga. Seinen Durchbruch erlebte der Samba etwas später in den 1920er und ‘30er Jahren. Insbesondere während der autokratischen Regierung unter Vargas ab 1930 stieg der Samba zu dem Nationalsymbol Brasiliens schlechthin empor.
Dass ausgerechnet dem Samba diese Ehre zuteil wurde, war den gesellschaftlichen Umständen und der Tatsache, dass er in Rio de Janeiro das Licht der Welt erblickte, geschuldet. Der Samba war sozusagen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er entfaltete seine Größe aufgrund des Zusammenkommens verschiedener Faktoren jener Zeit: gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen, politische Entscheidungsträger und die räumliche Nähe zu den letztgenannten. Ein anderer “Geburtsort”, ein anderer Zeitgeist oder andere Akteure und der Samba wäre vielleicht als lokales Musikphänomen in den Untiefen der Geschichte versandet.
Historische Umstände
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Samba zum ersten Mal auf Platte gebannt wurde, war Brasilien innerlich zerrissen. Brasilien war zwar ein Staat und seit Ende des vorangegangenen Jahrhunderts sogar eine Republik, aber es war keine Nation. Das Land und seine Bevölkerung verharrte in einem Regionalismus ohne übergreifende brasilianische Identität. Die räumlichen Distanzen in diesem riesigen Land, die kulturellen Unterschiede und nicht zuletzt die unterschiedliche Wirtschaftsleistung der verschiedenen Regionen ließen kein verbindendes Nationalgefühl aufkommen.
Zu weiten Teilen war Brasilien noch eine reine Agrargesellschaft. Die Republik – die kein Ergebnis eines zivilbürgerlichen oder gar demokratischen Prozesses war – wurde seit 1913 von Kaffee- und Milch-Oligarchen regiert. Es wurden fast ausschließlich die Interessen der landwirtschaftlichen Eliten bedient. Doch seit der Jahrhundertwende erlebte Brasilien eine zunehmende Industrialisierung. Wurden zwischen 1890 und 1895 gerade einmal 425 neue Fabriken gebaut, waren 1907 bereits mehr als 3.200 Fabriken in Betrieb. Insbesondere der Süden profitierte von dieser Entwicklung. Städte wie Sao Paulo und Rio de Janeiro reiften zu blühenden Metropolen.
Diese unterschiedliche ökonomische Entwicklung verschärfte den Regionalismus. Die industrialisierten Regionen im Süden fühlten sich von der korrupten Regierung nicht mehr repräsentiert. Zudem waren sie vom eigenen Selbstverständnis her auf dem Weg ins 20. Jahrhundert, während der agrarisch geprägte Teil des Landes noch im letzten verharrte. Die ländlichen Regionen hingegen fühlten sich abgehängt. Sie entwickelten eine Art von Minderwertigkeitskomplexen, da ihnen ihre provinzielle Lebensweise jenseits der Metropolen bewusst wurde.
Künstlerische Strömungen
Die interregionalen Differenzen drohten das Land zu zerreißen. Vom Gefühl her war Brasilien nur de jure, nicht aber de facto eine Nation. In dieser Zeit des Zwiespalts begannen Intellektuelle, Künstler und Mitglieder des neu entstandenen Bürgertums nach einer gemeinsamen brasilianischen Identität zu fragen. Sie waren in Sorge um die territoriale und ideelle Einheit ihres Landes. Wie konnte man die ökonomischen, politischen und kulturellen Antagonismen in Einklang bringen? Wie konnte man als gemeinsamer Nationalstaat die nationalen und internationalen Herausforderungen des anstehenden 20. Jahrhunderts bewältigen? Was bedeutete es generell, brasilianisch zu sein?
Die geistige Elite sah im Nationalismus die Möglichkeit, Anachronismen wie Monarchie und Sklaverei endgültig zu überwinden und die Gesellschaft, in der sie lebten, für die Veränderung der Moderne wie Demokratie und Industrialisierung vorzubereiten. Die Ideen dieser Modernisten sowie ihre Bewegung selbst erlebten ihren Durchbruch während der Week of Modern Arts in Sao Paulo 1922. Die Modernisten vertrauten darauf, dass die Kunst ein brasilianischen Zusammengehörigkeitsgefühl stiften und das Land einen könnte. Die Kunst sollte vorgeben, wie der brasilianische Nationalstaat und die brasilianische Gesellschaft idealerweise aussehen sollte.
Die Modernisten stellten sich vor, dass Brasilien einerseits ein Industriestaat frei von Imperialismus und Regionalismus sein sollte. Andererseits wünschten sie sich, dass Brasilien eine Nation sein sollte, die die kulturelle und rassische Vielfalt in sich vereint und verkörpert. Diesbezüglich waren sie überzeugt, dass die brasilianische Identität keine europäische oder amerikanische Kopie, sondern original brasilianisch sein sollte. In ihrem Wunsch nach einer authentischen nationalen Ästhetik sprachen die Modernisten im übertragenen Sinn von Antropophagia – von Kannibalismus. Um eine nationale Identität, die Brasiliens rassische und kulturelle Heterogenität verkörpert, zu schaffen, sollten die althergebrachten Bräuche und Traditionen kannibalisiert, d.h. gefressen und zu etwas gänzlich Neuem verdaut werden, um etwas exklusiv brasilianisches zu kreieren.
Politische Strömungen
Neben den Künstlern und Intellektuellen suchten auch die wirtschaftlichen und politischen Akteure nach Veränderung. Im Zuge der brasilianischen Industrialisierung und ihrer sozioökonomischen Umwälzungen wuchs der Unmut über die oligarchische Regierung. Auf der einen Seite war die Bourgeoisie unzufrieden über die zögerliche Wirtschaftspolitik. Ihre Interessen kollidierten mit denen der Landaristokraten. Sie gerieten in Konflikt mit dem Konservatismus und dem Demokratiedefizit der Regierung. Auf der anderen Seite war das Proletariat enttäuscht darüber, dass die Regierung die soziale Frage nicht anging. Durch die Industrialisierung mussten neue Antworten auf zuvor unbekannte Probleme gegeben werden. Doch diese Antworten blieben aus. Zu guter Letzt war sogar das Militär eher progressiv eingestellt und der Meinung, dass es dem republikanischen Regime an Disziplin mangelte.
Das Militär putschte 1930 und übertrug daraufhin Getúlio Vargas die Macht, der im selben Jahr die Präsidentschaftswahl gegen den Regierungskandidaten verlor. Vargas läutete das Ende der ersten brasilianischen Republik ein. Er verstand es, mit seiner Partei ein Anlaufpunkt für die “große Koalition der Unzufriedenen” zu sein. Ihm gelang es, die unterschiedlichsten Teile der Bevölkerung, deren Interessen nicht länger vom oligarchischen Regime repräsentiert wurden, unter sich zu vereinen.
Vargas kam dem damaligen Zeitgeist, wie er den avantgardistischen Modernisten entsprach, insofern entgegen, dass seine Politik selbst darauf ausgelegt war, eine nationale Identität zu schaffen. Ein starker brasilianischer Nationalstaat sollte den kleinteiligen Regionalismus überwinden. Dementsprechend war auch Vargas daran interessiert, eine einheitliche brasilianische Kultur zu formen. Hierfür wurden in der ‘30er Jahren neue Regierungsinstitutionen gegründet wie das Nationale Ministerium für Propaganda und kulturelle Verbreitung oder das Presse- und Propagandaministerium. Gewiss sind derartige Einrichtungen seit jeher der Dreh- und Angelpunkt eines jeden autoritären Regimes, indem sie zum Beispiel politische Zensur ausüben. Nichtsdestotrotz dienten sie unter Vargas gleichfalls der Förderung einer eigenständigen brasilianischen Kultur, wie es durchaus im Sinne der Modernisten war.
Vor allem der Aufbau einer brasilianischen Musiktradition besaß für Vargas politische Priorität. So wurde massiv in einheimische Musikprojekte investiert. Musik wurde maßgeblich an Schulen und im neuen Massenmedium Radio gefördert. Das Musikgenre, das dabei sowohl von Seiten der Regierung als auch von Seiten der Modernisten entscheidend unterstützt wurde, war Samba.
Die Entstehung des Samba
Ähnlich wie Jazz hat Samba seine Wurzeln in der afrikanischen Musiktradition der importierten Sklaven. Und ähnlich wie in den USA war mit der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien um die Jahrhundertwende noch lange nicht der Rassismus in den Köpfen der Menschen abgeschafft. Als Bürger zweiter Klasse wechselten die ehemaligen Sklaven von der Sklavenarbeit in die Lohnarbeit – soweit sie denn Arbeit fanden. In der Hoffnung darauf, zogen sie vornehmlich in den industrialisierten Süden und seinen Metropolen wie Rio de Janeiro. Vergleichbar mit den heutigen Favelas siedelten sie sich dort in den morros genannten Hügelgegenden an.
Vor seinem nationalen Durchbruch war Samba im Grunde nichts anderes als ein lokales Musikgenre der schwarzen und gemischtrassigen Bevölkerung in Rio, das mit Blasinstrumenten, Gitarren und Händeklatschen in Szene gesetzt wurde. Insbesondere der Praca Onze (Platz Elf) war ein Treffpunkt der frühen sambistas, wie die Sambaspieler genannt werden. Doch zunächst erlebten die Sänger und Tänzer aus dem Armenviertel Rios Diskriminierung und Polizeigewalt.
Der Siegeszug des Samba
Erst als die in Rio ansässigen Künstler und Intellektuellen der modernistischen Bewegung auf ihrer Suche nach einer originären national-brasilianischen Ästhetik auf den Samba aus den morros stießen, erfuhr der afrikanischstämmige Teil der brasilianischen Kultur – und damit der afrikanischstämmige Teil der brasilianischen Bevölkerung – eine Aufwertung. Im Samba sahen die Avantgardisten jenes exklusiv brasilianisches und die Rassenvermischung verkörperndes Kulturprodukt, dass sie sich so sehr für eine brasilianische Nationalidentität wünschten.
Die Boheme nahm den Samba bereitwillig in ihre cidade genannten Viertel mit hinüber. Zudem entwickelten sich zwischen den Poeten, die Musik mochten, und den Musikern, die Poesie mochten, neue Beziehungen, dank denen rassische und soziale Barrieren überwunden wurden. Durch die Bekanntschaften mit den Modernisten eröffneten sich neue Möglichkeiten für die sambistas und dementsprechend für den Samba selbst. Die Modernisten nahmen quasi die Rolle von Kulturvermittlern ein, die den Samba einem neuen Publikum und neuen Gesellschaftsschichten präsentierten und so zu seiner Popularität beitrugen.
So war es auch die räumliche Nähe zu den Regierungsinstitutionen, durch die diese auf den Samba aufmerksam wurden und wodurch er im Rahmen der Musikförderungen in hohem Maße verbreitet wurde. Die Regierungsmitarbeiter, Plattenfirmen und Radiomoderatoren fanden das neue Musikgenre sozusagen direkt vor ihrer Tür in Rio. Neben dem Radio, das das Hinterland mit dem neuen Sound Brasiliens und somit mit den Metropolen verband, steigerte der Samba seine Popularität ebenso durch den Karneval. Im Rahmen der Förderprogramme wurden auch die sambistas finanziell unterstützt, um am Karneval teilnehmen zu können. Die Musiker und Tänzer organisierten sich vermehrt in Sambaschulen, um sich und ihre Musik der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.
Mulatto
Doch als Musik allein hätte der Samba wohl kaum zum Nationalsymbol aufsteigen können, nur weil die Regierung und eine intellektuelle Kunstbewegung dies anstrebten. Neben der Musik und ihren sozio-kulturellen Hintergründen waren es vor allem die Texte der Sambasongs, die ein typisch brasilianisches Lebensgefühl vermitteln, mit dem sich die Menschen landesweit identifizieren konnten. Insbesondere zwei Motive zeichneten den Samba aus und reflektierten eine Lebensweise, in der sich die Brasilianer wiedererkannten: der mulatto und der malandro.
Da Samba zunächst die Musik der schwarzen und gemischtrassigen Bevölkerung war, war es nur natürlich, dass die ersten Sambakünstler dementsprechend aus ihrem Leben als mulatto sangen. Selbst als der Samba vom Bürgertum adaptiert wurde, wurde die mulatto-Thematik von den weißen Musikern beibehalten. Vermutlich waren Weltanschauung und Musik bereits zu sehr miteinander verzahnt, um sie voneinander zu trennen. Darüber hinaus sollte sich das brasilianische Nationalgefühl gerade über den Aspekt der Rassenvermischung im Land definieren. Der Samba bediente diese Vorstellung nicht nur dahingehend, dass er von farbigen Musikern entworfen und gespielt wurde, sondern dass sich die weiße Boheme in gewisser Weise als tolerant und liberal betrachten konnten, indem sie sich der farbigen Kultur und ihren Errungenschaften hingaben. In seiner Entstehung und in seiner Rezeption erfüllte der Samba die brasilianische Idealvorstellung, eine multikulturelle, nicht rassistische Nation zu sein.
Malandro
Neben dem mulatto spielte gleichfalls der malandro eine große Rolle zu Beginn des Samba. Der malandro ist im weitesten Sinn ein Tunichtgut; ein Schlitzohr, Kleinkrimineller und Faulpelz, der spielt, trinkt und Frauen aufreißt. Ähnlich wie in Bezug auf das Motiv des mulatto, sangen die sambistas auch diesbezüglich einfach über eigenes Leben und ihr soziales Milieu. Viele ehemaligen Sklaven mussten Kreativität beweisen, um sich am Rande der Gesellschaft über Wasser zu halten. Im Gegensatz dazu bestand die einzige ehrbare Option darin, von der Sklaverei direkt in die Lohnarbeit überzugehen. Doch als Lohnsklave konnte die neu gewonnene Freiheit nicht so recht auskostet werden. Um nicht nur auf dem Papier frei zu sein, sondern um sich als freier Mensch fühlen zu können, musste zunächst der Müßiggang erprobt werden. Erst ohne Arbeit – egal ob Sklavenarbeit oder Lohnarbeit – konnten die ehemaligen Sklaven für sich selbst erfahren, was Freiheit ist. Indem sie spielten, stahlen oder Samba spielten konnten sie sich selbstbestimmt und ohne Zwang in den Grauzonen der Gesellschaft bewegen.
Auch das Motiv des malandro war bereits untrennbarer Bestandteil des Samba, als dieser seinen Weg in das Bürgertum fand. Die Regierung versuchte den malandro aus dem Samba zu vertreiben, was jedoch erfolglos blieb. Als eine Art Antiheld verkörperte der malandro den Charakter der brasilianischen Nation. Er war ein charismatischer Schwindler, der sein Leben mit cintura (Geschick), categoria (Klasse), jeitinho (eine besondere Art, die Dinge anzugehen) und einer Leichtigkeit, ohne Geld auszukommen (prontidao), meistert. Seine verrufene Lebensweise entsprach den Umständen jener Zeit. Daneben entsprach seine Arbeitsscheu dem tropischen Tempo Brasiliens, was bedeutete, dass das Klima wenig geeignet war für harte Arbeit. Entgegen des American Way of Life, wonach Zeit Geld ist, stand der malandro für eine eigene brasilianische Art, das den Tag und Leben zu bestreiten.
Seit nunmehr 100 Jahren steht der Samba für das, was Brasilien ausmacht. Er entstand in einer Phase der brasilianischen Geschichte, als sich die Brasilianer um nationale Identität, ökonomische, politische und soziale Veränderungen und dem Zusammenleben der Rassen sorgten. Gerade in schwierigen Zeiten kann es wichtig sein, sich auf gemeinsame Werte zu berufen.